Ermunterungsbrief April 2019 #1
Liebe Leserin, lieber Leser,
im 18. Jahrhundert werden BewohnerInnen des unter Hunger leidenden Schwabenlandes zur Auswanderung gelockt: Sie sollen ›Transsilvanien‹ besiedeln und landwirtschaftlich erschließen. Von dieser Epoche europäischer Kolonialisierung ausgehend erzählt der kroatische Autor Slobodan Šnajder in Die Reparatur der Welt an seiner eigenen Familiengeschichte entlang, wie 150 Jahre später die sogenannten Volksdeutschen »heim ins Reich« geholt und für die Waffen-SS rekrutiert werden. Historische Gewaltgeschichte verknüpft Šnajder mit mythischen Elementen und einer vielstimmigen Erzählweise, in der ein magischer Realismus anklingt. Seinen Roman stellt er am 2.4. in Lesung und Gespräch auf Deutsch und Kroatisch erstmals in Wien vor.
Gerhard Rühm dürfte durch die Beschäftigung mit der Schreibmaschine in den frühen 50er Jahren wichtige Impulse empfangen haben: Am Anfang seiner visuellen Poesie, anhand deren Vielfalt sich heute eine Geschichte der Gattung erzählen lässt, standen Schreibmaschinengedichte. So hat es auch eine werkgeschichtliche Logik, wenn Gerhard Rühm sein neues Buch poetik der schreibmaschine einem frühen Erfinder des Geräts widmet: dem Südtiroler Tischler und Instrumentenbauer Peter Mitterhofer (1822–1893). Einem Stationengang durch Mitterhofers Leben stellt Rühm je eine eigene typografische Arbeit zur Seite. Darauf folgen 20 aufgefundene Übungsblätter aus einem Schreibmaschinenkurs, literarische Readymades, denen Rühm eine besondere Rolle zugedacht hat: Sie bilden die Basis für ein neues Sprechduett, das er bei der Buchpräsentation am 4.4. gemeinsam mit Monika Lichtenfeld uraufführen wird – ein Brückenschlag zwischen seiner visuellen und seiner auditiven Poesie.
Unter dem Titel Gedicht und Gedächtnis falten am 11.4. zwei gegenwärtig Dichtende ihre lyrischen Referenzräume auf: Um 18 Uhr liest und kommentiert Florian Huber das Langgedicht det/das (1969) der dänischen Dichterin Inger Christensen (1935–2009) und gibt so eine seltene Gelegenheit zur Begegnung mit dem Gedicht in deutscher Übersetzung. Er schreibt: »Die Lektüre von det/das verspricht grundlegende Einsichten in das Verhältnis von Sprache und Welt und die Verfahren seiner poetischen Beschreibung, die bis heute stilbildend geblieben sind.«
Vielfach initiiert Franz Josef Czernin in seinem Schreiben intertextuelle Dialoge. Zuletzt stellte er in der Alten Schmiede seine Verwandlungen Grimm’scher Märchen vor. Czernins neuer Gedichtband nimmt Wilhelm Müllers Liederzyklus Die Winterreise und dessen Vertonung durch Franz Schubert zum Ausgangspunkt – dazu Florian Huber: »In einer lyrischen Um- und Fortschreibung der Stimmen und Klänge der romantischen Vorlage verhandelt Czernin die Bedeutung literarischer Topoi wie Liebe und Tod, Individuum und Gemeinschaft, Reise und Ankunft, Stillstand und Bewegung und führt den LeserInnen dadurch gleichermaßen ihre Geschichtlichkeit wie Gegenwart vor Augen.« Um 19 Uhr liest Franz Josef Czernin aus reisen, auch winterlich und tritt mit Florian Huber ins Gespräch.
Auf ein baldiges Wiedersehen,
das Team des Literarischen Quartiers