Name: orte. Schweizer Literaturzeitschrift.
Erscheinungsland/ort: Schweiz/Schwellbrunn
Gründungsjahr: 1974; die Zeitschrift ist heute die älteste noch existierende deutschsprachige Literaturzeitschrift der Schweiz.
Gründungsmitglieder: Werner Bucher, Rosemarie Egger
Redaktionsleitung: Werner Bucher (1974–2014), Annekatrin Ranft-Rehfeldt und Regina Füchslin (ab Sommer 2014).
Erscheinungsfrequenz: 5x jährlich
Struktur: Die Hefte gliedern sich in zwei Abschnitte: Ein Teil umfasst Beiträge zu einem Themenschwerpunkt, das zweite Segment beinhaltet wiederkehrende Rubriken wie „hör-orte“ (Hörbuchbesprechungen), „orte-bestenliste“ (GastautorInnen stellen Bücher vor) und „orte-marktplatz“ (Annoncen, teilweise poetisch und lustig).
Programmatik: „Die Zeitschrift möchte […] immer wieder klar machen, dass in ihrem Verständnis ‚die Schweiz‘ sich nicht einfach auf die Deutschschweiz beschränkt, sondern dass ihr alle vier Sprachregionen unseres Landes gleichermassen wichtig sind, nämlich als Sprachorte und somit auch Literaturorte. Diese vier Hauptorte unterteilen sich wieder in unzählige dialektale Orte, und ausserhalb unseres Landes gibt es Nachbarorte, aber auch weit entfernte, durch das Fluidum der Literatur und überhaupt des Lebens uns zugewandte Orte. All diesen will die Zeitschrift Reverenz erweisen, daher auch orte als Name.“ (Messmer, Erwin: orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Ein kurzer geschichtlicher Abriss. In: orte Nr. 200/2019, S.71)
Geschichtliche Eckdaten: Die Gründung der orte 1974 erfolgte im Geiste der 68-er Unruhen. Der Chefredakteur und Herausgeber Werner Bucher engagierte sich vehement für das Außenseitertum der Literaturszene, weshalb in den orten in seiner Ära auch nur selten bekannte AutorInnen publizierten. Stilistisch und inhaltlich orientierte sich die Zeitschrift an der literarischen Bewegung der Neuen Sensibilität. Im Sommer 2014 wurde die Redaktionsleitung der orte von Annekatrin Ranft-Rehfeldt und Regina Füchslin übernommen. Der orte-Verlag, der die Zeitschrift bis dahin herausgab, wurde 2015 in das Verlagshaus Schwellbrunn eingegliedert. Programmatisch ist die neue Redaktion gekennzeichnet durch eine gewachsene Offenheit gegenüber einer Vielzahl literarischer Strömungen und Gattungen. (vgl. Messmer, Erwin: orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Ein kurzer geschichtlicher Abriss. In: orte Nr. 200/2019, S.71–75)
Jubiläumsausgabe Nr. 200 (2019)
Die Jubiläumsnummer der schweizerischen Literaturzeitschrift hat den Schreibort zum Thema: Neun Schriftsteller und Schriftstellerinnen verschiedener Sprachen mit unterschiedlichen Verbindungen zur Schweiz, sei es als Geburts- und Kindheitsland, sei es als Wahlheimat, reflektieren ihre Schreibräume. Das Spektrum gewählter Orte reicht hierbei von den Räumen, die der schriftstellerischen Imagination die Pforte öffnen und jenen, an denen der Schreibprozess stattfindet, über die erzählten Räume in literarischen Werken bis hin zu den Grenzräumen, in denen diese unterschiedlichen Dimensionen aufeinandertreffen.
Alain Claude Sulzers Text widmet sich einem Traumort: In seiner Wohnung entdeckt er eine Reihe verborgener und leerer Zimmer, die die Leserin als symbolische Darstellung seines Unterbewusstseins interpretiert. Urs Faes reflektiert über den Friedhof als Ort der Kindheitserinnerung und stillen Einkehr, der seine literarische Imagination entfacht: „[…] ein Ich, das aufnahm im Verweilen und Lauschen, den Ort abschmeckte und abhorchte, die Worte formte, aus dem Ich ein Er werden liess, aus der autobiographischen Erfahrung eine Erzählung, einen Text.“ (S. 19–20) Weitere AutorInnen wählten ebenfalls Kindheitsorte als Topoi literarischer Kontemplation. Die lyrischen Texte von Jaël Lohri haben das gemeinschaftlich geführte Haus Brunnental ihres frühen Heranwachsens im Zentrum. Leonor Gnos’ Gedichte verweben Impressionen ihres Geburtsorts Amsteg am Bristenstock mit unterschiedlichen Gefühlsregungen und Gedankensträngen und Vanni Bianconi schreibt in seinem Beitrag über die faura dei morti, ein Waldstück nahe seinem Kindheitsdorf Ambrì, das er als Grenzort und Schwelle in das Reich des Magischen und Übersinnlichen imaginiert. In Prosa und Lyrik von Brigitte Gyr sind es Gewässer, die Rhone und der Genfersee, die bewegliche Orte der Überlappung und Mischung symbolisieren. Auch Markus Kirchhofers Gedichte für orte spiegeln seine Erfahrungen am Wasser. Für Michail Schischkins literarisches Schaffen spielte die Wohnanlage „Käferholz“ in Zürich, in die er nach einer Trennung zog, eine wichtige Rolle. In seinem Beitrag konstruiert er das Haus als heterotopischen Ort, an dem nur alte und schrullige Menschen wohnen und der zum Geburtsort seines Romans Venushaar wird. Martin R. Dean schließlich sieht die Literatur als Echoraum, in dem er sich durch die Technik der Verfremdung selbst näher kommt.
Ob Lyrik, Prosa oder reflektierender Essay: stilistisch sind die Beiträge ebenso weit gefächert wie die beschriebenen Orte. In einigen Fällen wurden die eigens für das Heft verfassten Texte durch bereits bestehende lyrische und erzählerische Arbeiten der SchriftstellerInnen ergänzt. Als bereichernde Zugabe enthält jeder Beitrag auch ein Gespräch mit dem/r AutorIn über die Bedeutung der gewählten Schreiborte und die Funktion des erzählten Raumes in ihren erzählerischen Verfahren. So begehen die Lesenden nicht nur persönliche Orte der AutorInnen, sondern vor ihrem inneren Auge entsteht auch eine Topografie der Schweiz, die über deren Landesgrenzen hinaus und bis ins Imaginäre hineinreicht.
Anlässlich des Jubiläums enthält der Rubrikteil dieser Ausgabe eine Darstellung der Zeitschriften-Historie von Erwin Messmer und eine chronologische Reihung der wichtigsten orte-Hefte seit 1974, zusammengestellt von der Redaktion. Im Rahmen der „orte-Bestenliste“ besprechen acht ehemalige Redaktionsmitglieder lesenswerte Bücher und in den „hör-orten“ befasst sich Peter K. Wehrli mit drei Hörbüchern von und mit Blaise Cendrars. Seien es griesgrämige Schriftsteller, die Lebenspartnerinnen suchen, oder Zürcher Dichterinnen, die das Elefantenreiten erlernen wollen: Der „orte-marktplatz“ enthält einen Streifzug durch die amüsantesten Kleininserate seit Einführung der Rubrik. Leider verstarb der orte-Gründer und ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Werner Bucher während der Arbeiten an der Jubiläumsnummer. Die Ausgabe enthält aus diesem traurigen Anlass auch drei seiner Person gewürdigte Nachrufe von Viviane Egli, Erwin Messmer und Peter K. Wehrli.
Ein stimmiges Jubiläums-Heft!
Lena Brandauer (Alte Schmiede)